In der globalen Debatte
um den Raub von Land und anderen natürlichen Ressourcen fällt der
Tourismussektor bisher meist unter den Tisch. Dabei bedrohen Vertreibungs- und
Verdrängungsprozesse auch im Namen des Tourismus die Rechte von lokalen
Gemeinschaften auf Land, Wohnraum und Ressourcen in erheblichem Ausmaß – wie
zahlreiche Berichte von Wissenschaftlern, Journalisten und
Nichtregierungsorganisationen belegen. Eine aktuelle Studie von Andreas Neef im
Auftrag von Tourism Watch verdeutlicht, dass der Tourismus ein wesentlicher
Verursacher von Landraub, Vertreibung und schleichenden Verdrängungsprozessen
auf der ganzen Welt ist. Der Professor für Internationale Entwicklung an der
University of Auckland, Neuseeland, hat 25 Fälle aus dem Globalen Süden im
Detail untersucht. Im Interview mit Tourism Watch erläutert er die wichtigsten
Erkenntnisse seiner Studie.
Tourism Watch (TW): Warum findet der
Tourismus in der Debatte um Landrechte und Landraub bisher relativ wenig
Beachtung?
Andreas Neef (AN): Dafür gibt es verschiedene Gründe. Erstens
ist der Tourismus ein fragmentierter Sektor mit zahlreichen Interessengruppen
entlang seiner „Wertschöpfungskette“. Daher ist es relativ schwer, einzelne
Unternehmen zu identifizieren, die die Land- und Ressourcenrechte der lokalen
Gemeinschaften verletzen. Zweitens handelt es sich um eine „Wohlfühl“-Branche,
die für Freizeit und Vergnügen steht und normalerweise nicht mit gewaltsamen
Landübernahmen und Zwangsräumungen in Verbindung gebracht wird. Außerdem ist es
auch eine Frage der Schwerpunktsetzung: Viele Nichtregierungsorganisationen
haben die Verletzung lokaler Landrechte durch andere extraktive Industrien wie
Bergbau und industrielle Landwirtschaft betont, bei denen das Ausmaß der
Landnahme und Vertreibung zunächst größer erscheint. Zwar mag es stimmen, dass
Hotels und Resorts weniger Land benötigen, um ihr Geschäft zu betreiben, als
ein Bergbauunternehmen, eine Kautschukplantage oder riesige Felder für den
Anbau von Biokraftstoffen. Blicken wir jedoch auf die Millionen von Hektar, die
den örtlichen Gemeinden für die Schaffung von „menschenleeren“
Naturschutzgebieten, Nationalparks und Kulturerbe-Stätten – die sich zu beliebten
Touristenattraktionen entwickelt haben – genommen wurden, erkennen wir schnell
die dramatischen Auswirkungen des Tourismus auf die traditionellen und
indigenen Land- wie Ressourcenrechte.
TW: Welche Triebfedern für
tourismusinduzierte Landraub- und Verdrängungsprozesse haben Sie in Ihrer
Studie festgestellt?
AN: Es ist klar, dass Tourismusunternehmen - insbesondere
multinationale Hotelketten - hauptsächlich von wirtschaftlichen Interessen
getrieben werden. Und sie wissen genau, was die Mehrheit ihrer Kunden will:
unberührte Strände, All-Inclusive-Resorts und Sicherheit. Komfortable und
sichere Urlaubsumgebungen lassen sich am einfachsten schaffen, wenn die
ursprünglichen Bewohner umgesiedelt werden. Die Motive der Regierungen in den
Reiseländern sind tendenziell komplexer. Sie erhoffen sich nationales
Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze durch Tourismus. Tourismuszonen können
sie zudem leichter managen und besteuern als Gebiete, die von
unterschiedlichsten lokalen Gemeinschaften bewohnt werden. In Grenz- oder
Konfliktgebieten kann die Tourismusentwicklung von den Regierungen dazu
instrumentalisiert werden, diese Regionen zu militarisieren und zu sichern. Für
mich war eines der interessantesten Ergebnisse der Studie, in welch hohem
Ausmaß die militärischen oder paramilitärischen Kräfte oft in den
Tourismussektor involviert sind und mit Landraub und Vertreibungen in
Verbindung stehen. Ein weiterer treibender Faktor ist, dass Touristen nicht nur
als temporäre Besucher kommen, sondern als Residenz-Touristen bleiben. Das
macht das Land für Anwohner oft unbezahlbar. In solchen Fällen kann die
Verdrängung schrittweise erfolgen, ist jedoch nicht unbedingt weniger
verheerend.
TW: Mit welchen Argumenten wird
Landraub und Verdrängung im Namen des Tourismus gerechtfertigt?
AN: Regierungen und Tourismusunternehmen rechtfertigen
Landraub und Vertreibungen für den Tourismus mit ähnlichen Gründen. Sehr häufig
wird Tourismus als Mittel für nationales Wirtschaftswachstum, Armutsbekämpfung,
Naturschutz oder die Erhaltung des Kulturerbes dargestellt, was dem
„öffentlichen Interesse“ diene. Die Regierungen können sich dann auf das
"Enteignungsrecht des Staates" berufen und damit legitime oder
rechtmäßige Ansprüche auf Land außer Kraft setzen. Besonders beliebt bei
Regierungen und touristischen Investoren ist der Diskurs vom „Brachland“. Dabei
behaupten sie, dass ein für die Tourismusentwicklung vorgesehenes Gebiet
entweder unbewohnt oder von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern nicht produktiv
beziehungsweise nicht nachhaltig genutzt würde. Der Tenor lautet dabei: „Die
Einheimischen haben die Umwelt zerstört; nun brauchen wir Tourismus, um die
Natur wieder herzustellen und zu schützen“. Und der Tourismus soll dann die
Arbeitsplätze für die enteignete Bevölkerung schaffen. Oft wird auch behauptet,
der Massentourismus könne dazu beitragen, durch Katastrophen oder bewaffnete
Konflikte zerstörte Gebiete wieder aufzubauen.
TW: Wie können die verantwortlichen
Akteure zur Rechenschaft gezogen werden?
AN: Nun, das ist der knifflige Teil, weil die Täter nicht
isoliert agieren, sondern oft Teil eines größeren Bündnisses sind. Dazu gehören
auch Akteure, wie etwa der Finanzsektor oder internationale
Geberorganisationen, die sich über das Ausmaß von Landraub und Zwangsräumungen
möglicherweise nicht einmal im Klaren sind. Wir müssen bedenken, dass
tourismusbezogener Landraub und Verdrängung im gesamten politischen Spektrum
stattfindet - in demokratischen Systemen, in semiautoritären Regimen und in
autoritär regierten Ländern. Die bestehenden Rechtsvorschriften in Bezug auf
Land machen oft wenig Unterschied. Landraub kann sowohl in Ländern mit
überwiegend privaten Eigentumsrechten als auch in Ländern mit traditionellen
und gemeinschaftlichen Land- und Ressourcenrechten erfolgen. Ich denke, ein
wichtiger erster Schritt wäre, alle Darstellungen zurückzuweisen, die die
Vertreibung von Landnutzerinnen und Landnutzern und den Verkauf von Land für
den Tourismus mit dem Argument „des öffentlichen Interesses“ rechtfertigen. Es
ist auch von entscheidender Bedeutung, die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und
Menschenrechte in die Regierungspolitik und verbindliches nationales und
internationales Recht zu integrieren. Der Tourismussektor muss dabei genau
soviel Aufmerksamkeit erhalten wie andere extraktive Industrien und das
verarbeitende Gewerbe. Wenn Sie sich die nationalen Aktionspläne der
EU-Regierungen zu Wirtschaft und Menschenrechten ansehen, werden Sie
feststellen, dass der Tourismussektor kaum erwähnt wird.
Quelle:
TourismWatch