Im Buch
„Imperiale Lebensweise“ stellen der Politikwissenschaftler Markus Wissen
und sein Kollege Ulrich Brand so ziemlich alles infrage, was unseren
Alltag in der Wirtschaftsnation Deutschland ausmacht – unter anderem
die Liebe zum Auto. Ein Interview über private Pkws und wie sie die Welt
zerstören.
In Ihrem
Buch gehen Sie mit unserer Lebensweise hart ins Gericht. Was ist so
schlimm am deutschen Lebensstil?
Markus
Wissen: Erinnern Sie sich an den verheerenden Dammbruch vor zwei Jahren in
Brasilien? In einem Eisenerzbergwerk in Mariana brachen zwei Rückhaltebecken,
sechzig Millionen Kubikmeter schwermetallhaltigen Schlamms begruben ein Tal
unter sich und verseuchten den Fluss Rio Doce. 16 Menschen starben, das ganze
Ökosystem wurde zerstört. Diese Umweltkatastrophe hängt direkt mit unserer
Lebensweise in Deutschland zusammen. Denn Deutschland importiert Eisenerz im
großen Stil aus Brasilien – insbesondere für die Herstellung von deutschen
Autos.
Sie sagen
also, dass wir Deutschen eine Mitschuld an dem Unglück tragen?
Mit unserer
Haltung als selbsternannte Auto-Nation, die jederzeit zu günstigen Bedingungen
auf die nötigen Rohstoffe zugreifen möchte, fordern wir so etwas heraus. Aber
es ist nicht nur die Herstellung von Autos, die massiven Schaden anrichtet,
sondern natürlich auch deren Nutzung. Die CO2-Emissionen der
Deutschen liegen bei etwa neun Tonnen pro Kopf und Jahr – es dürften aber nur
zwei bis drei Tonnen sein, um den Klimawandel zu stoppen. Rechnet man unseren
CO2-Ausstoß auf die gesamte Weltbevölkerung um, muss man sagen: Wenn
alle so leben würden wie wir, dann wäre die Erde schon längst kollabiert.
Sollten wir
also ganz aufs Auto verzichten?
Auf lange
Sicht ja. Ich denke, dass der private Pkw-Besitz zurückgedrängt werden muss.
Stattdessen sollten wir die öffentlichen Verkehrsmittel und die Infrastrukturen
für Fahrräder ausbauen. Sehen Sie sich doch mal in Ihrer Stadt um! Die Straßenränder
sind zugepflastert mit Automobilen, die 23 Stunden am Tag einfach nur
rumstehen. Das sind Räume, die für Kinder zum Spielen genutzt werden könnten.
Für Straßenfeste oder schlicht für ein angenehmes Leben in der Stadt! Darüber
denkt nur niemand nach, weil wir uns so an den Alltag mit Autos gewöhnt
haben.
Ihr
Vorschlag klingt vorbildlich. Aber halten Sie ihn für realistisch? Schließlich
sind laut Zahlen von 2015 rund 792.000 Menschen in der deutschen
Automobilindustrie beschäftigt.
Ich weiß
natürlich, dass das eine provokante These ist. Aber die Umstellung kann
funktionieren. Das belegt der Fall des britischen Rüstungsunternehmens „Lucas
Aerospace“, das in den 1970er Jahren in eine tiefe Krise geriet: Damals setzten
die Beschäftigten sich zusammen und dachten sich neue Projekte aus. Anstelle
von Rüstungsgütern entwickelten sie gesellschaftlich sinnvolle Produkte wie
Sehhilfen für Blinde, Solarzellenmotoren oder Wiederbelebungsgeräte. So etwas
wäre sicherlich auch für die Automobilindustrie denkbar. Wichtig ist, dass die
Beschäftigten einbezogen werden.
Ich kann mir
vorstellen, dass es trotzdem Autofahrer gibt, die absolut nicht auf ihren Wagen
verzichten wollen.
Ja,
sicherlich verzichten Menschen nur ungern. Aber ich halte diesen Verzicht für
unabdingbar. „Verzicht“ heißt in diesem Fall nichts anderes, als dass
einer privilegierten Gruppe von Menschen die Möglichkeit genommen wird, auf
Kosten anderer und der Natur zu leben. Für viele bedeutet er einen Zugewinn an
Lebensqualität. Lassen Sie mich ein Beispiel bringen: Die Menschenrechte sind
eine relativ neue Erfindung. Ihre Durchsetzung bedeutete vor langer Zeit auch
einen Verzicht – für Feudalherren und absolutistische Herrscher, die von
bestimmten Formen der Ausbeutung ihrer Untertanen ablassen mussten. Heute sind
die Menschenrechte in vielen Verfassungen verankert. Daran sieht man:
Umfassender Wandel ist möglich.
Was müssen
wir tun, um einen solchen Wendepunkt zu erreichen?
Das ist
nichts, was einfach von selbst geht. Wir müssen dafür kämpfen, dass Einstellungen
überdacht werden und eine Veränderung unserer Lebensweise stattfindet. Dafür
müssen wir uns politisch einsetzen – in Umweltverbänden, Gewerkschaften oder
Initiativen wie der „Critical Mass“. Auf diese Weise können wir auf Politik und
Wirtschaft einwirken und letztlich eine rücksichtsvollere Lebensweise
erreichen, die weder die Umwelt noch andere Menschen ausbeutet.
Quelle Greenpeace
Magazin; Interview: Julia Huber