Tomaten ernten. 10 Stunden pro Tag. Für 30 Euro. Bei Wind und Wetter. Und nach getaner Arbeit auf ein verfallenes Flugfeld verfrachtet werden, wo eine schäbige Behausung inmitten von Müllbergen steht – meist ohne Strom, fließendes Wasser oder eine eigene Toilette. Was wir uns weder vorstellen noch erleben wollen, ist der triste Alltag Zehntausender afrikanischer Arbeitsmigranten – meist Männer –, die es nach ihrer langen und gefährlichen Reise durch Afrika und über das Mittelmeer nach Italien geschafft haben. Sie haben keine andere Wahl, als die Arbeit zu machen, die sonst niemand machen möchte. Das Flugfeld von dem die Rede ist, heißt Borgo Mezzanone und liegt rund 20 Kilometer südöstlich der italienischen Stadt Foggia. Es ist eines von mehreren Migrantenghettos, die sich im Laufe der Jahre um die Stadt gebildet haben. Selbst wenn keine Erntezeit ist, leben dort rund 3.000 Menschen. In der Hochsaison sind es auch schon mal 8.000 oder mehr – ganz genau weiß das niemand. Ihren Strom zapfen sie sich illegal von umliegenden Leitungen ab, medizinische Versorgung Fehlanzeige. Polizei gibt es hier keine. Und Mafiagruppierungen nehmen den Erntehelfern Teile des ohnehin geringen Lohns für Transport, Wasser und Miete ab. Wehren können sich die Menschen kaum, weil sie meist keine Aufenthaltsgenehmigung oder Duldungspapiere haben.
Kontrastprogramm:
Irgendwo
in Deutschland kaufen Menschen im Supermarkt bei sanfter Musik und angenehm
kühlen Temperaturen ein. 500 ml Tomatenketchup kosten bei Aldi Süd 1,49 Euro, die
650 g-Schale frische Rispentomaten im Onlineshop von Rewe 1,39 Euro und die
passierten Biotomaten im 500 g-Tetrapack bei Lidl 0,75 Euro das Kilo. Natürlich
stammen nicht alle Tomaten aus Italien, sondern oftmals auch aus den
Niederlanden oder Belgien. Aber Tomatenprodukte sind allgemein unschlagbar
günstig zu haben. Gut für uns, schlecht für die Bäuerinnen und Bauern. Doch nur
die wenigsten Kundinnen und Kunden machen sich bei ihrem Einkauf Gedanken über die
Machtverhältnisse hinter den Kulissen, die zu Niedrigpreisen, ausbeuterischen
Arbeitsverhältnissen und Dumpinglöhnen führen. Denn in Deutschland konzentriert
sich das Geschäft mit Lebensmitteln auf vier Konzerne. Zusammen beherrschen
Edeka, Lidl, Rewe und Aldi laut Bundeskartellamt mehr als 85 Prozent des
deutschen Lebensmittelmarkts. „Lieferanten wird mit Auslistung gedroht, wenn
sie sich deren Preisdiktat und Konditionenforderungen nicht beugen,“ heißt es
im Plattformpapier der 2018 gegründeten Initiative „Konzernmacht beschränken“.
In ihr haben sich rund 30 Nichtregierungsorganisationen, darunter der BUND,
Germanwatch und die Deutsche Umwelthilfe vereint, um sich für faire
Lieferketten zu engagieren. Anfang 2024 hatte das Bündnis klare Maßnahmen von
der Bundesregierung und vom Bundeskartellamt gegen die Marktmacht des
Lebensmitteleinzelhandels gefordert. Von fairen Lieferketten sind wir vor allem
bei frischen Lebensmitteln noch weit entfernt. Die großen Supermarktketten
nutzen ihre Marktmacht, um den Kostendruck an die Erzeugerinnen und Erzeuger
weiterzugeben. „Kein Unternehmen kann sich nachhaltig nennen, solange es Preise
unter Produktionskosten zahlt“, heißt es im Forderungspapier der Initiative „Faire
Preise in der Lieferkette“, einem weiteren NGO-Bündnis. Auch die
Monopolkommission weist in ihrem aktuellen Hauptgutachten auf problematische
Entwicklungen in den Lebensmittel-Lieferketten hin. Die Analyse deute darauf
hin, „dass … die Agrarerzeuger im Laufe der Zeit immer geringere
Preisaufschläge durchsetzen können, während insbesondere der
Lebensmitteleinzelhandel heute in der Lage ist, höhere Preisaufschläge zu
realisieren als in der Vergangenheit.“
Preise unter Produktionskosten?
Das ist keine Fiktion, sondern zunehmend Realität. „Wir lassen unser Obst lieber an den Bäumen verfaulen, als es zu Dumpingpreisen an einen deutschen Supermarkt zu verkaufen“, sagt resigniert der Geschäftsführer einer Bio-Zitrusfrucht-Plantage in Rosarno, tief unten im Süden Italiens, der nicht mit Namen genannt werden möchte. Oftmals bekommen sie nur 30-40 Cent pro Kilo für Zitronen oder Orangen. Früchte, für die wir in Deutschland drei oder mehr Euro pro Kilo zahlen. Höhere Löhne für die Pflückerinnen und Pflücker, meist afrikanische Migranten, sind da nicht drin. Italien ist keine Ausnahme. Auch in anderen europäischen Ländern leiden sowohl Bauern als auch Arbeiter unter dem Preisdruck großer Supermarktketten, egal, ob es sich um Himbeeren aus Portugal, Fleisch aus Rumänien, Gemüse aus Spanien oder Erdbeeren aus Griechenland handelt. In Deutschland sind die Machtspielchen der Lebensmittelhändler vor allem beim Anbau von Erdbeeren und Spargel wohldokumentiert: In einer Oxfam-Studie heißt es, Produzenten von Frischeprodukten seien besonders stark von unlauteren Handelspraktiken betroffen. Ein Großteil der befragten Verhandlungsleiter aus der Ernährungsindustrie gab an, der Lebensmitteleinzelhandel diktiere Forderungen oder ändere die Vertrags- oder Lieferbedingungen einseitig. Wichtiges Druckmittel des Handels sei die Drohung, günstigere Ware aus dem Ausland zu beziehen.
Alternativen alleine genügen nicht
Zum Glück existieren alternative Vertriebskanäle, die auf einen direkten Handel vom Erzeuger zum Verbraucher setzen. Bauernvereinigungen, Genossenschaften oder digitale Vermarktungsplattformen wie Le Galline Felici (die glücklichen Hühner), Crowdfarming, NoCap oder Unternehmen des Fairen Handels sind nur einige Beispiele dafür, wie wir Verbraucher Olivenöl, Nüsse, Zitrusfrüchte, Avocados oder sogar Mangos aus dem Süden Europas saisonal direkt beziehen können. Die Bauern bekommen mehr Geld für ihre Produkte, die Erntehelfer menschenwürdige Löhne und wir tolle Bioprodukte, die zudem – im Fall von Obst und Gemüse – frisch geerntet zu uns kommen. Natürlich ist es damit nicht getan. Zu Recht fordert daher die Initiative „Konzernmacht beschränken“ von der Politik, dringend die Regeln gegen unfaire Handelspraktiken zu verschärfen. Es brauche ein besseres Agrarorganisationen-und-Lieferkettengesetz mit einer Ombuds- und Preisbeobachtungsstelle … und einem weitgehenden Verbot unfairer Handelspraktiken. Bis aus den Forderungen Realität wird, ist es noch ein langer Weg, den aber jeder von uns aktiv unterstützen kann. Die hart schuftenden und schlecht bezahlten Erntehelferinnen und -helfer werden es ihnen danken.
Quelle: Frank Herrmann (Text und Bild)