Norbert Bolz ist Philosoph und
Medienwissenschafter an der Technischen Universität Berlin. Er gehört zu den
streitbarsten Philosophen der Gegenwart.
Herr Bolz, Sie sind bekannt dafür, in gesellschaftlichen Diskursen gern einmal Contra zu geben. Was halten Sie vom zeitgeistigen Begriff der Nachhaltigkeit? Ein ökologischer Fundamentalismus?
Wenn
Nachhaltigkeit als ökologischer Fundamentalismus benutzt würde, wäre das ja
sinnvoll. Aber auch nur dann – etwa im ursprünglichen Sinn der Forstwirtschaft.
Aber so, wie der Begriff heute verwendet wird, halte ich ihn für gewaltigen
Unsinn. Er wird inflationär über alle möglichen gesellschaftlichen
Zusammenhänge gestülpt und in den absurdesten Kombinationen benutzt, um zu
signalisieren: «Ich bin ein guter Mensch.» Es gibt kaum mehr einen
gesellschaftlichen Bereich, der nicht «nachhaltig» ist, der Begriff hat auch
Eingang gefunden in die Unternehmensphilosophien, das ist absurd.
Wie erklären Sie sich diesen Siegeszug?
Er klingt –
gemäß seinen forstwirtschaftlichen Ursprüngen – ungemein beruhigend: Es wächst
was nach, alles ist balanciert. Aber die Balancemodelle der älteren
ökologischen Bewegungen funktionieren nicht. Die Grünen brauchten nach dem
Zusammenbruch des Kommunismus ein neues Thema – und das war mit der Natur
schnell gefunden. Aber der Grundgedanke der Grünen von einer Balance zwischen Gesellschaft
und Umwelt im Sinne von Natur ist unvereinbar mit der Theorie komplexer
Systeme. Das weiß jeder Wissenschafter. Aber laut sagen würde das keiner.
Warum nicht?
Nachhaltigkeit
ist zum positiven Tabu geworden: Bloß nicht infrage stellen, bloß nichts
dagegen sagen. Es geht um Wählerstimmen, um Abhängigkeiten. Die Welt der
Wissenschaft und diejenige der Politik driften zunehmend auseinander.
Gefälligkeitswissenschafter schreiben Gutachten für Politiker. Sie untermalen
das, was die Politik und die empörte Öffentlichkeit hören will, mit
wissenschaftlichen Formeln. Nachhaltigkeit ist ein Entrée-Billett für alle
möglichen Diskussionen. Deshalb dringen kritische Stimmen kaum in die
öffentliche Wahrnehmung.
Wären die Leute damit überfordert?
Balancemodelle
sind sehr einfach, die komplexe Realität ist es nicht. Nachhaltigkeit ist wie
ein Zuckerguss oder eine Schaumkrone über komplexen Problemen. Aber das wollen
die Leute nicht hören. Ihnen ist die Nachhaltigkeit als rhetorische
Wirklichkeit, als Beruhigungsvokabel lieber. Man muss den Leuten nur sagen: Wir
schlagen nur so viele Bäume ab, wie nachwachsen, oder produzieren nur Energie,
die sich erneuert. Deshalb ist das große Symbol der Nachhaltigkeit das
Windrad.
Wenn man nur so viele Bäume fällt, wie nachwachsen – was ist das, wenn nicht nachhaltig?
Prima! Aber
unsere Vorstellung von der modernen Gesellschaft beruht doch auf Wachstum. Und
in dieser Form kann sie nicht nachhaltig operieren.
Schon vor knapp 20 Jahren sollten Sie an der Universität Essen einen Vortrag über «Sustainability» halten – und hielten ihn über «Unsustainability». Gibt es keine Nachhaltigkeit?
Die
wundervolle Balance-Idee widerspricht diametral der Logik moderner dynamischer
Systeme: Die Systemtheorie der Gesellschaft schildert unsere Welt als Welt von
komplexen Systemen – mit einer eigenen Dynamik. Wir taumeln gewissermaßen von
Katastrophe zu Katastrophe, so wie sie der Mathematiker René Thom in seiner
«Katastrophentheorie» beschrieben hat: Dabei geht es nicht um spektakuläre
Katastrophen wie Kriege oder Naturkatastrophen, sondern um eine extreme Form
von Unordnung. Wenn dynamische Systeme wie unsere moderne Gesellschaft von
Unordnung zu Unordnung stürzen, dann ist das ganz normal.
Kann die Nachhaltigkeit das Chaos nicht ein Stück weit auffangen?
Nein, sie
fängt sich selbst ab, ist gefangen in der Dynamik der modernen Gesellschaft.
Nachhaltigkeit ist der Gegenschlag zu entropischen Modellen, sie erlöst uns von
der Entropie. Das heißt: Sie suggeriert uns weniger Chaos, beruht aber auf einem
Informationsmangel.
Sind wir den kommenden Generationen den Versuch nicht schuldig, nachhaltig zu leben?
Ich bin auf
alle Fälle für ökologische Maßnahmen. Aber es ist eine Illusion, zu denken,
dass Nachhaltigkeit die Welt auffangen kann wie einen Ball, den man in die Luft
wirft. Dabei verspricht die Nachhaltigkeit scheinbar Lösungen für die Probleme
der modernen Welt nach dem Motto: «Wir wissen, wie die Welt zu retten ist. Ihr
müsst alle nur noch mehr Energie sparen.»
Den Begriff der Nachhaltigkeit gibt es schon seit langem. Warum hat er gerade jetzt so große Konjunktur?
In der
westlichen Welt haben wir uns von Gott – und von den sozialistischen Utopien –
als Religion verabschiedet. Ich glaube aber, dass die Leute an irgendetwas
glauben müssen, also eine Ersatzreligion brauchen. Und die mächtigste ist da
wohl die grüne Bewegung, das Umweltbewusstsein. Im Grunde gibt es nur noch eine
Religion: Mutter Natur. Sie bietet das Gleichgewicht, das der sündhafte Mensch
zerstört. Deshalb hat die Nachhaltigkeit eine quasireligiöse Funktion
übernommen. Das Glaubenssystem konkretisiert sich in der Sorge um das
Weltklima: Man glaubt an eine nahende Katastrophe, und die Heilserwartungen
sieht man in einem «nachhaltigen» Lebensstil.
Quelle: NZZ/Jenni Roth